Toolpaths for Bellona
opening reception on Friday,
27 April, 6-9 pm
Cheyney Thompson
Toolpaths for Bellona
(Werkzeugpfade für Bellona)
27. April
- 2. Juni 2018
Eröffnung am Freitag, dem 27. April, 18-21 Uhr
erweiterte Öffnungszeiten während des Gallery Weekend:
28.-29. April, 11-19 Uhr
Ich kehre zu diesen zehn Zeichnungen von Cézanne zurück, ohne dass ich genau sagen könnte, was mich dazu immer wieder bewegt. Es handelt sich um Studien zu der Figur von Bellona in dem Gemälde “Apotheose von Heinrich IV” von Rubens. Cézanne fertigte diese Zeichnungen über einen Zeitraum von dreißig Jahren hinweg an. Es ist davon auszugehen, dass sie im Louvre entstanden, wo sich das Gemälde befindet. Vor fünfzehn Jahren dachte ich über eine Formulierung von Cézanne aus einem Gespräch mit Gasquet nach, in der er von seinem Wunsch spricht, eine “lichtempfindliche Platte“ zu werden. Für eine Weile half mir das dabei, für mich eine dichte historische Abfolge zu entwerfen, unterwegs durch Bézier, Casteljau, Citroën, Renault, einen Holzarbeiterstreik, Automation, Arbeit. Etwas Totgeborenes, das so viel Trauer mit sich bringt. Ein Problem des Ergreifens, der Anschein mancher Technologien, die Kamera, die das ganze korporeale Regime der Wahrnehmung in einen Belagerungszustand versetzte. Nichts daran war plötzlich, Museum und Malerei waren schon da und setzten eine Syntax in Kraft (es gab andere Bellonas, andere Figuren), einige Bilder von einigen Körpern. Cézanne kehrte immer wieder ins Museum zurück, und er verließ es immer wieder. Er machte sich Notizen, und kam immer wieder auf dieselben Bilder zurück. Von oben betrachtet, machte er Kurven (nicht unähnlich den Zeichnungen, die Deligny nach seinen autistischen Kameraden anfertigte), die auch wie ein Geflecht von GPS-Daten aussehen könnten. Eine Spur, die nichts mitteilt, oder nur sehr wenig. Ich habe das gesehen, aber eigentlich nicht einmal. Nun also jeweils zwei Zeichnungen für jede. Ins Museum gehen, den Bleistift in die Hand nehmen, den Bleistift weglegen, das Museum verlassen, woanders hingehen, alle diese Werkzeugpfade. Und Sammlungen, eine Sammlung von Gemälden, eine Sammlung von Gesten, eine Sammlung von Namen, von Körpern, eine Sammlung von Linien, eine von Verläufen (Pfaden). Ich kann alle Linien in der Sammlung zählen, zehn Bündel von Linien, die Bündel reichen von eintausendsiebenhundertzwölf in der größten Sammlung bis zweihundertsiebzig in der kleinsten.
Die Bündel sind immer um dieselbe Form von Bellona herum organisiert. Im Internet finde ich heraus, dass sie eine römische Kriegsgöttin war, und dass sie ein populäres Motiv für Cosplay-Verkleidungen darstellt. Es gibt sie in so vielen Versionen, dass das Warburg-Institut eine eigene Akte über sie hat. In den Bündeln gibt es auch unterschiedliche Verteilungen von kurzen oder langen bzw. hellen oder dunklen Linien. Die Linien sind in sich selbst Bündel dimensionaler Punkte und von Amplituden und Tangenten … Die zehn Bündel lassen sich auf fünfundvierzig unterschiedliche Weisen kombinieren. Das lässt sich durch eine kombinatorische Operation mit dem Namen n choose two herausfinden. Durch diese einfache Funktion wird aus den fünfundvierzig schließlich neunhundertneunzig, und in einer dritten Generation vierhundertfünfundachtzigtausendfünfhundertfünfundfünfzig. Von einem Freund habe ich erfahren, dass es andere Funktionen gibt, mit denen man schneller in den Bereich großer Zahlen kommt, zum Beispiel die Ackermann-Funktion oder die Busy-Beaver-Funktion. Mir gefiel aber n choose two, denn sie erlaubte es mir, mir die Bellonas als einen isolierten Stamm von Hermaphroditen vorzustellen, der unter dem genau einzuhaltenden Imperativ litt, sich durch singuläre Dopplungen zu reproduzieren. Für die Zusammenführung zweier Sammlungen bedurfte es einer Technik, die eine zeitweilige Eliminierung der Einzigartigkeit jeder einzelnen Linie in jeder Zeichnung erlaubte. Aus einer Sicht ist das eine Aufhebung, in einer anderen könnte man von Verdichtung sprechen.
Ein Bin-Lattice wird über die Zeichnungen gelegt, wobei die Adressen der Zeichnungen in einer Hilbertkurve organisiert werden. Nun lassen sich lokale Dichten in den Geflechten sinnvoll über die ganze Sammlung hinweg auswerten. Wenn man diese Reinigungsrituale vollzogen hat, muss man nicht mehr über Schenkel oder Brüste oder Ellbogen sprechen. Der bündelnde Algorithmus, der aus Github kopiert und eingesetzt wurde, übernimmt das Kommando, und auch wenn Big Data das zu gefallen scheint, spricht jemand in den Stapelüberlauf-Foren von einem “Müll rein Müll raus”-Algorithmus. Ich mag ihn, denn wenn ich versuche, ihn zu verstehen, beschwört das bei mir das Bild von einer Handvoll Steine herauf, die in einen ruhigen See geworfen werden. Das Kräuseln der Wellen läuft in eine Sammlung von Zellen zusammen. Voronoi-Zellen, Bernard-Zellen, im Herzen der Selbstorganisation findet man eindeutig kein stabiles Selbst, nur das Ausbluten von skalaren Werten, die für Augenblicke in ein dimensionales Feld übergehen. Nichts weiter als ein paar Eigenschaftsvektoren, die einen Gegenstand suchen. Aber für diese Zeichnungen muss es reichen, für den Roboter ist das schon mehr als genug um sich an die Arbeit zu machen.
C.T.
“Cheyney Thompson hat seit über einem Jahrzehnt die Technologie, Produktion und Distribution der Malerei zu seinem Thema gemacht. Er verwendet rationale Strukturen, technologische Prozesse und generative Mittel um Probleme zu durchdenken, die sich um den Begriff und die Bedingungen der Malerei herum verorten. Mit einem so rigorosen Zugang zum Medium hat er ein visuell beeindruckendes, akribisches Werk geschaffen, in dem er auf unterschiedliche Arten von Abstraktion eingeht: bildliche, ökonomische und technologische. Der Status der Malerei inmitten konkurrierender technologischer Weisen der Bildproduktion und die historischen und technischen Bedingungen des Mediums waren zentrale Anliegen in vielen von Thompsons neueren Arbeiten. Als Technologie ist die Malerei veraltet. Mit den Techniken der Produktion und Zirkulation von Bildern kann sie anscheinend nicht mithalten. Dabei ist die Malerei in der Lage, andere technische Produktionsweisen ständig in sich aufzunehmen und zu verinnerlichen. Thompsons Gemälde beziehen sich unmittelbar auf ein Bild, das eben genau durch so eine Reihe von Technologien vermittelt ist - von Perspektive und Fotografie zum kinematografischen Apparat und dem digitalen Artefakt. […]”
Joao Ribas, in: Metric Pedestal Cabengo Landlord Récit, MIT List Visual Arts Center, Cambridge 2013
Toolpaths for Bellona ist die sechste Einzelausstellung von Cheyney Thompson in der Galerie Buchholz. Cheyney Thompson (1975 in Baton Rouge geboren) lebt und arbeitet in New York.
Cheyney Thompson
Toolpaths for Bellona
27 April
- 2 June 2018
opening reception on Friday, 27 April, 6-9 pm
extended opening hours during Gallery Weekend:
28-29 April, 11am-7pm
I am returning to these ten Cézanne drawings without knowing exactly what draws me back to them so frequently. They are studies after the figure of Bellona in the Rubens painting ‘Apotheosis of Henri IV’ which hangs in the Louvre. Cézanne made them over a thirty year period presumably while visiting the museum. Fifteen years ago, I was trying to make sense of something Cézanne or Gasquet said about his desire to become “a sensitized plate.” I think, for a little while, it helped me sketch out a tense historical sequence passing through Bézier, Casteljau, Citroën, Renault, a woodworkers strike, automation, labor. Something stillborn setting into motion so much mourning. A problem of prehension, the appearance of some technologies, the camera, which laid siege to the entirety of the corporeal regime of sensation. Nothing sudden about it, already the museum was there and the painting was there, asserting a syntax (there were other Bellonas, other figures), some images of some bodies. Cézanne, always returning to the museum and always leaving, taking notes, only to return again to the same images. Seen from above, trajectories, not unlike Fernand Deligny’s drawings after his autistic comrades, could emerge like a tangle of GPS data. A trace that communicates nothing, or very little. I saw this, but not even. Now, two drawings for everyone. Going to the museum, picking up the pencil, putting away the pencil, leaving the museum, going somewhere else, all these toolpaths. And collections, a collection of paintings, a collection of gestures, a collection of names, of bodies, a collection of lines, a collection of pathways. I can count all the lines in the collection, ten bundles of lines, each bundle ranging from one thousand seven hundred and twelve in the largest collection to two hundred and seventy in the smallest.
The bundles are always organized around the same form of Bellona. The internet tells me she was a Roman goddess of war and that some people cosplay as her, or some version of her, there are enough versions of her around that the Warburg Institute has a file on her. The bundles also have differing distributions of short or long lines and light or dark lines. The lines are themselves bundles of dimensional points, amplitudes, tangents… For the ten bundles, there are forty-five ways that the ten collections can be combined. This is found from a combinatorial operation called n choose two. By this same simple function, the forty-five will later become nine-hundred and ninety and a third generation becomes four-hundred-eighty-five-thousand-five-hundred-fifty-five. I learned from a friend that there are other functions that get you into the realm of large numbers quickly, for example the Ackerman function or the Busy-Beaver function. But I liked this one because it allowed me to imagine these Bellona’s as an isolated tribe of hermaphrodites suffering under the pains of an imperative to reproduce through singular pairings. In order for the merging of two collections to take place it was necessary to find a technique that allowed for a temporary elimination of the uniqueness of each line in each drawing. From one point of view this is sublation, from another it is compression.
A bin lattice is placed over the drawings whose addresses are organized following a Hilbert curve. Now, local densities in the tangles can be meaningfully evaluated across the collection. After this cleansing ritual is complete, it is no longer necessary to talk about thighs or breasts or elbows. The clustering algorithm copy and pasted from Github takes over, and even though big data seems to like it, someone on the stackoverflow boards refers to it as a ‘garbage in garbage out’ algorithm. I like it because trying to understanding it conjures an image of a handful of stones being tossed into a still lake. The ripples converge as a collection of cells. Voronoi cells, Benard cells, at the heart of self-organization there is very clearly no self to be found and maintained, only the bleeding out of scalar values that momentarily slide into a dimensional array. Just some feature vectors looking for an object. But for these drawings it will have to suffice, it is already more than enough for the robot to get to work.
C.T.
“Cheyney Thompson has made the technology, production, and distribution of painting the subject of his work for over a decade. Thompson employs rational structures, technological processes, and generative devices as part of ‘thinking through problems that organize themselves around the terms of painting’. With such a rigorous approach to the medium, he has produced visually engaging yet exacting work that addresses varieties of abstraction including pictorial, economic, and technological. The status of painting within competing technological modes of image production and the medium’s historical and technical conditions have been central concerns in much of Thompson’s recent work. As a technology, painting is both outmoded within the technics of the production and circulation of images, yet also able to continuously incorporate and internalize other technical modes of production. Thompson’s paintings readily engage the image, as mediated by precisely such a series of technologies - from perspective and photography to the cinematic apparatus and the digital artifact. […]”
Excerpt from: João Ribas, in Metric Pedestal Cabengo Landlord Récit, MIT List Visual Arts Center, Cambridge 2013
Toolpaths for Bellona is the sixth solo exhibition by Cheyney Thompson at Galerie Buchholz. Cheyney Thompson (born 1975 in Baton Rouge) lives and works in New York.
Cheyney Thompson
“489[1614 curves][1879-82][page 1]”, 2018
graphite on paper,
mounted to book cloth
73.5 x 50.8 cm
Cheyney Thompson
“598[620 curves][1883-86][page 4]”, 2018
graphite on paper,
mounted to book cloth
73.5 x 50.8 cm
Cheyney Thompson
“1215[338 curves][1900][page 10]”, 2018
graphite on paper,
mounted to book cloth
73.5 x 50.8 cm
Cheyney Thompson
“627[923 curves][1883-86][page 5]”, 2018
graphite on paper,
mounted to book cloth
73.5 x 50.8 cm
Cheyney Thompson
“1007[749 curves][1888-91][page 6]”, 2018
graphite on paper,
mounted to book cloth
73.5 x 50.8 cm
Cheyney Thompson
“Toolpaths for Bellona [page 92]”, 2018
graphite on paper,
mounted to book cloth
73.5 x 50.8 cm
Cheyney Thompson
“Toolpaths for Bellona [page 38]”, 2018
graphite on paper,
mounted to book cloth
73.5 x 50.8 cm
Cheyney Thompson
“490[888 curves][1879-82][page 3]”, 2018
graphite on paper,
mounted to book cloth
73.5 x 50.8 cm
Cheyney Thompson
“Toolpaths for Bellona [page 11]”, 2018
graphite on paper,
mounted to book cloth
73.5 x 50.8 cm
Cheyney Thompson
“489bis[1712 curves][1879-82][page 2]”, 2018
graphite on paper,
mounted to book cloth
73.5 x 50.8 cm
Cheyney Thompson
“Toolpaths for Bellona [page 119]”, 2018
graphite on paper,
mounted to book cloth
73.5 x 50.8 cm
Cheyney Thompson
“Toolpaths for Bellona [page 65]”, 2018
graphite on paper,
mounted to book cloth
73.5 x 50.8 cm
Cheyney Thompson
“1140[589 curves][1896-99][page 9]”, 2018
graphite on paper,
mounted to book cloth
73.5 x 50.8 cm