Isa Genzken

“Spiegel, 1991”

13 June 2001 -
18 June 2001

Art Basel, Art Unlimited

Isa Genzken
“Spiegel” 1991

 

Art Unlimited, Basel 2001

 

Isa Genzken, die den meisten durch ihre skulpturalen Werke (Ellipsoide, Hyperbolos, Betonskulpturen, Epoxydharzarbeiten, Edelstahlskulpturen im Außenraum u.a.) bekannt geworden ist, hat parallel zu ihren Skulpturen vom Beginn ihrer künstlerischen Entwicklung an Arbeiten im Medium der Fotografie realisiert. Dazu gehört ein fotografisches Berlinbuch von 1970, zwei sogenannte Hifi-Serien (Refotografien) von 1979, ebenso eine fotografische Reproduktion mit dem Titel “Courbet” eine Serie von großformatigen Farbfotografien von (Frauen-)Ohren von 1980, zwei Serien von 1988-90 von X-Rays von ihrem Kopf und drei Fotocollagebücher von New York aus den Jahren 1995-96. Zu erwähnen ist darüber hinaus ihre Zusammenarbeit mit Wolfgang Tillmans, die sich u.a. in einer Mappe von (Tillmans-) Fotografien von ihrer ‘Erscheinung’ im Kölner Dom niedergeschlagen hat.

 

Isa Genzkens Arbeit “Spiegel” unterscheidet sich von allen diesen Umgangsweisen mit dem Medium Fotografie: weder hat I.G. die ausgestellten Fotos selbst gemacht, noch hat sie existierende Vorgaben fotografisch reproduziert, noch ist sie selbst der fotografierte Gegenstand. Die Arbeit besteht aus 121 Fotografien, die I.G. im Verlauf eines Jahres (1991) aus dem Nachrichtenmagazin ‘Der Spiegel’ ausgeschnitten und auf Papier aufgeklebt hat.

 

Walter Benjamin hatte erklärt; dass das, was als ‘Aussage’ eines Fotos rezipiert wird, nicht unabhängig von der Bildunterschrift und dem Zeitschriftenkontext zu denken sei. Dieses ‘Bewusstsein von der semantischen Relativität der Fotografie beherrschte lange Zeit die medien- und kunsttheoretische Diskussion. I.G. bestreitet mit ihrer ‘Spiegel”-Serie nicht die Stichhaltigkeit dieses Argumentes, zieht jedoch aus ihr unerwartete Konsequenzen, indem sie das, was nicht der Fotografie selbst angehört - die Bildunterschrift und den Kontext des Zeitschriftenartikels - von der Präsentation ausschließt. Die einzelne Fotografie wird so überhaupt erst als Fotografie sichtbar.

 

Das Interesse richtet sich dabei auf einen Standard von Fotografie, den ‘Der Spiegel’ im Bereich der Schwarzweißfotografie zu halten vermochte. Doch sieht I.G. diesen nicht in einsinniger Übereinstimmung mit den Funktion(en) der Fotografie innerhalb des Zeitschriftenkontextes definiert: sei es im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation, der Reportage oder im Sinne dessen, was man eine ‘gute’ Fotografie nennt, oder technisch-ästhetisch, als hohe Auflösung von Grauwerten, sondern wird allererst sichtbar in einer subjektiven Definition und Auffassung. Nur wenn das einzelne Foto die Person, die es anschaut, auf eine unvermutete Weise betrifft, anrührt, fasziniert, in Unruhe oder ein subtiles Abseits versetzt, ihr zu denken gibt - ohne dass dies als Absicht des Fotografen ersichtlich würde -, nur wann es in keiner vordergründigen ‘Bildaussage’ aufgeht, entsteht so etwas wie ein ‘zweites Gesicht’, das die normalen standardisierten Abläufe der Vermittlung von Information überschreitet, obwohl es diese in seiner Entstehung voraussetzt. Es versteht sich beinahe von selbst, dass dieses Interesse bestimmte Auswahlkriterien einschließt: keine Politiker, keine Sportler, keine… Die Bestätigung von Prominenz ist nicht intendiert (Ausnahmen bestätigen die Regel).

 

Roland Barthes unterschied in seiner Theorie der Fotografie (die er als mathesis singularis - nicht universalis - verstanden wissen wollte, als eine Wissenschaft vom einzelnen Gegenstand, die ‘auf der Basis von ein paar persönlichen Gefühlen’ dennoch Wesenszüge von Fotografie zu formulieren vermag) “das studium” und “das punctum”. Das studium bestimmt sich als ‘konventionelle Information, die den Rezipienten als Angehörigen einer Kultur betrifft und einem “durchschnittlichen Affekt” unterliegt. Das punctum dagegen ist das, was das studium aus dem Gleichgewicht bringt, der springende Punkt der Wirkung - “denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck - und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft). Das studium ist immer codiert - d.h. sowohl die Information selbst als auch ihre Lektüre -, das punctum dagegen durchsticht in seiner bloßen Kontingenz gerade auch diejenigen Codes, denen die Lektüre normalerweise blindlings folgt. “Die absolute Subjektivität erreicht man nur in einem Zustand der Stille (…) Das Photo rührt mich an, wenn ich es aus seinem üblichen Blabla entferne: ‘Technik, ‘Realität”, “Reportage’, ‘Kunst” und so weiter: nichts sagen, die Augen schließen, das Detail von allein ins affektive Bewusstsein aufsteigen lassen”.

 

Der Betrachter beerbt auf diese Weise nicht den Blick des Fotografen, sondern wird aufmerksam auf seinen eigenen, Beispiele für das punctum anzuführen bedeutet von daher zugleich: sich preiszugeben. In dieser Beziehung ist jedoch eine merkwürdige Diskrepanz zwischen Barthes ‘Theorie’ in ihrer psychologischen Disposition und I.G.’s Praxis festzustellen. Denn das punctum schlechthin findet Barthes in Bild seiner Mutter. Vor diesem Bild verblasst alles andere, insbesondere die Reportagefotografie, die ihm “einförmig” erscheint: “In diesen Bildern gibt es kein punctum: wohl den Schock doch keine Betroffenheit (…) Ich blättere sie durch, ich vergegenwärtige sie mir nicht (…) sie interessieren mich (so wie mich die Welt interessiert), ich liebe sie nicht”. Das punctum ist für Barthes privat (um nicht zu sagen bourgeois); nur deshalb bedeutet die Anführung von Beispielen Preisgabe seiner selbst. Für I.G. trifft dies nicht in der gleichen Weise zu, Barthes versetzt studium und punctum theoretisch in strikte Opposition zueinander und reproduziert damit die Spaltung von Öffentlichem und Privatem, I.G. schließt beides praktisch zusammen: das punctum sucht und findet sie gerade in der Reportagefotografie. Man muss die Welt, die auf diese Welse “in die Augen sticht” nicht lieben, um durch das punctum in die Lage versetzt zu werden, “das ganz normale Elend” nicht bloß zur Kenntnis zu nehmen, sondern einen subtil abseitigen Zugang und Berührungspunkt mit ihm zu finden. Gerade weil das punctum “weder Moral noch guten Geschmack” respektiert, ist es in der Lage, “Wohlwollen, fast Rührung hervorzurufen”.

 

Im Gegensatz zu Barthes, der in der Anführung des punctum sein Privates als ‘Autor’ preisgibt, geht I.G.’s Beschäftigung mit dem punctum in Reportagefotografien aus der Erfahrung hervor, dass in den Printmedien ‘Privates’ nicht preisgegeben, sondern der Öffentlichkeit ausgeliefert wird (bezogen auf ihre eigene Biographie: als der “Spiegel” seinerzeit berichtete, dass die RAF Konten auf den Namen lsa Genzken eröffnet hatte). Das punctum ist das ‘kleine Loch’, durch das Öffentliches und Privates plötzlich in eins gesetzt sind. Daraus resultiert ein anderes Verständnis des punctum und seines Mediums.

 

Für Barthes dreht sich das punctum um Leben und Tod, Gegenwart und Vergangenheit, Lust und Schmerz. in der Vergegenwärtigung (des Bildes) der Mutter; für I.G. dagegen dreht es sich um das Medium selbst und die Welt, der dieses Medium angehört. In seiner unbedingten Subjektivität hat es zugleich einen radikalen Öffentlichkeitscharakter und einen durch keine semantische Relativität eingeschränkten Realitätscharakter.

 

I.G.’s “Spiegel” lässt sich verstehen vor dem doppelten Hintergrund der Entwicklung der Fotografie in der sog. konzeptuellen Kunst einerseits und des Siegeszuges der Fotografie in den 80er Jahren andererseits. In den 60er Jahren waren konzeptuelle Künstler dazu übergegangen, als Fotojournalisten zu arbeiten, um auf diese Weise die traditionelle Holle des Künstlers in Frage zu stellen. Die traditionellen Künste, Malerei und Skulptur, aber auch die künstlerisch anspruchsvolle Fotografie - die sogenannte “art photography” - waren als “aufgeladene Bestimmungen’ obsolet geworden, so dass der Fotojournalismus als Modell eines ästhetisch und psychologisch neutralen Mediengebrauchs erschien. In den 70erJahren erwuchsen daraus die beiden divergierenden Ansprüche einer tiefergreifenden Konzeptualisierung des Mediums und seines künstlerischen Einsatzes einerseits (Sherrie Levine) und eines effektiveren politischen Gebrauchs andererseits (Barbara Kruger) bzw. auch die Frage, ob und wie sich beides verbinden ließe, in den 80 Jahren war jedoch weniger eine derartige Verbindung zu beobachten, als vielmehr eine vollständige Kommerzialisierung der “künstlerischen” Fotografie im Zuge ihrer Gleichstellung mit den traditionellen Künsten: Fotografien wurden nun zu den gleichen Preisen gehandelt wie Gemälde und Skulpturen, und sie glichen sich auch in den Formaten und Präsentationsformen diesen Vorgaben an. Fragen wie die nach dem Verhältnis von Fotografie als “Kunstwerk” Im Verhältnis zum Abzug, zur Vergrößerung/Verkleinerung, zur Auflage, zur Refotografie und zur gedruckten Fotografie blieben dabei auf eine merkwürdige Welse offen - d.h. ihre Beantwortung wurde dem Markt und dem Kalkül des Künstlers überlassen.

 

Vor diesem Hintergrund lassen zwei von I.G.’s Entscheidungen in ihrem inneren Zusammenhang verstehen. Die Entscheidung, innerhalb des Kontextes von Kunst zum Fotojournalismus zurückzukehren, und die Entscheidung, nicht selbst zu fotografieren, sondern Fotografien lediglich auszuwählen, auszuschneiden 
und als Serie zu präsentieren. Durch die erste Entscheidung setzt sie sich in Beziehung zu den Motiven, die in den 60er Jahren zur künstlerischen Übernahme des fotojournalistischen Modells geführt haben, weist aber gleichzeitig - durch die zweite Entscheidung - die Vorstellung zurück, dass dieses Modell als Modus eigener künstlerischer (fotografischer) Praxis noch länger tauglich sein könnte. Durch die zweite Entscheidung stellt sie jedoch zugleich die künstlerische Tauglichkeit derjenigen Formen von Fotografie als Kunst in Frage, die in den 80er Jahren zum Durchbruch kamen - Formen, in denen Fotografie zur “aufgeblasenen Bestimmung” wurde. Eine subtile Ironie von I.G. “bescheidener” Praxis des Auswählens, Ausschneidens und Aufklebens von Fotografien aus dem “Spiegel” ist vielmehr darin zu erkennen, dass einzig diese Praxis geeignet erscheint, die Gleichstellung der Fotografie mit den traditionellen Künsten zu begründen, da die Fotografie allein in dieser Praxis einem offenkundig fortschreitenden Verfall ausgesetzt ist - wie eine Leonardo-Zeichnung.

 

Aber da bleibt diese beharrliche Frage nach der Autorschaft. I.G.’s Hifi-Serien entstanden zeitgleich mit den frühesten Refotografien Levines und ihr Werk “Courbet” zeitgleich mit den frühesten Reproduktionen
Levines von Kunstwerken, die nicht selbst Fotografien sind, doch fanden I.G.’s Arbeiten kaum Beachtung. Dies hängt nur z.T. damit zusammen, dass man glaubte, sie auf die Rolle als “Bildhauerin” festlegen zu können (ein Interesse, das den Erfolg ihrer Fotografien von Frauenohren mitbegründet); der wichtigere Grund für diese Ignoranz ist darin zu sehen, dass Levines Kunst von vorherein an den poststrukturalistischen Diskurs angeschlossen war, der als implizite Deutungsanweisung funktionierte: man wusste sofort, dass es um die “Dekonstruktion” des “Mythos vom Autor” ging. Das Zusammenspiel von intellektuellem Diskurs und ästhetischer Praxis führte dabei zu einer raffinierten, paradoxen, aber im Prinzip leicht durchschaubaren (in den Effekten dennoch quirligen) Bestätigung der “intellektuellen Autorschaft” Levines. Bei I.G. funktionierte das nicht und war auch nicht intendiert. Wer ist der Autor einer Werbung? Autorschaft muss etabliert sein, um “dekonstruiert” werden zu können. I.G. setzt auf einer anderen Ebene an, die nicht per se an eine emphatische Suggestion von Autorschaft gebunden ist: auf der Ebene der Modellierung des affektiven Bewusstseins und ausgehend von der Feststellung, dass diese Modellierung
nur zu einem minimalen Bruchteil von der Kunst geleistet wird - dass hier andere Bereiche in der Gesellschaft wie die Werbung, der Fotojournalismus, Mode und Design objektiv einen stärkeren Einfluss haben. Dennoch ist die Kunst in der Lage, in Bezug auf diese Formen ein subtiles Abseits zu konstituieren, und je subtiler dieses Abseits ist, je weniger es einem etablieren intellektuellem Diskurs, einer “corporate identity” der Artworld, einem Lifestyle oder einer politischen Zielvorgabe zuarbeitet, desto eher versetzt es das affektive Bewusstsein in Kontakt mit sich selbst und diesen Formen d.h. in die Lage, in ihm selbst den Maßstab zu finden, um sich diesen Formen gegenüber - mit, in ihnen und gleichsam durch sie hindurch - souverän zu verhalten. Dies ist zugleich die eigentliche, übergreifende Bestimmung des punctum, die durch kein intensives Studium des punctum (wie Barthes es betreibt) erreicht werden kann, vielmehr nur durch “die Sache selbst”.

 

Es ist anzunehmen, dass die vielen kleinen “Spiegel”-Fotografien, wenn sie entlang den weißgestrichenen Wänden einer Galerie präsentiert werden, als ebenso viele kleine schwarze Löcher in Erscheinung treten, die den weißen Raum in Augenhöhe durchstoßen und eine Kraft entwickeln, die nach Innen wirkt.

 

Gregor Stemmrich

Isa Genzken

“Der Spiegel I”, 1989-1991
series of 121 illustrations
from the news magazine
‘Der Spiegel’ (1989-1991)
b/w, mounted on cardboard
under glass
each 29,7 x 21 cm
installation view Art Basel, Art Unlimited 2001

Isa Genzken

“Der Spiegel I”, 1989-1991
series of 121 illustrations
from the news magazine
‘Der Spiegel’ (1989-1991)
b/w, mounted on cardboard
under glass
each 29,7 x 21 cm
1 of 121 parts

Isa Genzken

“Der Spiegel I”, 1989-1991
series of 121 illustrations
from the news magazine
‘Der Spiegel’ (1989-1991)
b/w, mounted on cardboard
under glass
each 29,7 x 21 cm
1 of 121 parts

Isa Genzken

“Der Spiegel I”, 1989-1991
series of 121 illustrations
from the news magazine
‘Der Spiegel’ (1989-1991)
b/w, mounted on cardboard
under glass
each 29,7 x 21 cm
1 of 121 parts

Isa Genzken

“Der Spiegel I”, 1989-1991
series of 121 illustrations
from the news magazine
‘Der Spiegel’ (1989-1991)
b/w, mounted on cardboard
under glass
each 29,7 x 21 cm
1 of 121 parts

Isa Genzken

“Der Spiegel I”, 1989-1991
series of 121 illustrations
from the news magazine
‘Der Spiegel’ (1989-1991)
b/w, mounted on cardboard
under glass
each 29,7 x 21 cm
1 of 121 parts

Isa Genzken

“Der Spiegel I”, 1989-1991
series of 121 illustrations
from the news magazine
‘Der Spiegel’ (1989-1991)
b/w, mounted on cardboard
under glass
each 29,7 x 21 cm
1 of 121 parts

Isa Genzken

“Der Spiegel I”, 1989-1991
series of 121 illustrations
from the news magazine
‘Der Spiegel’ (1989-1991)
b/w, mounted on cardboard
under glass
each 29,7 x 21 cm
1 of 121 parts

Isa Genzken

“Der Spiegel I”, 1989-1991
series of 121 illustrations
from the news magazine
‘Der Spiegel’ (1989-1991)
b/w, mounted on cardboard
under glass
each 29,7 x 21 cm
1 of 121 parts